Umbau der Tierhaltung nur mit Bestandsreduktion
Neues Gutachten zeigt: Reduktion der Tierzahlen um 60 Prozent nötig – oder sechsfache Vergrößerung der Haltungsflächen
Hamburg, 23. März 2022 – Die Bundesregierung will die Haltung der sogenannten Nutztiere artgerecht umbauen – das hat sie im Koalitionsvertrag festgehalten. Um dieses Ziel umzusetzen, müssen die Tierzahlen in Deutschland um 60 Prozent reduziert werden. Zu dieser Bewertung kommt ein von VIER PFOTEN beim Tier-, Umwelt- und Agrarpolitik-Berater Dr. Philipp von Gall in Auftrag gegebenes Gutachten. Die globale Stiftung für Tierschutz fordert deshalb, dass der Umbau der Tierhaltung mit einer drastischen Tierzahlreduktion einhergeht.
Das Gutachten analysiert anhand verschiedener Modelle, welche Stall- und Außenflächen für den Umbau hin zu einer artgerechten landwirtschaftlichen Tierhaltung notwendig wären. Grundlage der Szenarien sind die Haltungsstandards der EU-Öko-Verordnung, da diese ein begründetes und in der Praxis etabliertes Mindestplatzangebot für Stall und Auslauf vorgeben.
Das Ergebnis der Analyse: Bleibt es bei der aktuell genutzten Fläche, müssten die bestehenden Tierzahlen signifikant reduziert werden. Nur wenn die aktuell genutzten Flächen massiv vergrößert würden, könnten die bestehenden Tierzahlen erhalten bleiben. Gemessen am Status Quo wäre hierfür die sechsfache Fläche nötig.
Nur eine Reduktion der Tierzahlen ist sinnvoll
Notwendige politische Maßnahmen zur Reduktion
Die Bestandsreduktion kann nur gelingen, wenn die Politik sie mit konkreten Maßnahmen flankiert. Die Bundesregierung muss laut VIER PFOTEN in einem ersten Schritt öffentlich transparent machen, welche politischen Mittel aktuell darauf abzielen, die Tierzahlen in Deutschland zu erhalten. Diese Maßnahmen müssen dann abgebaut und stattdessen Maßnahmen zu einer Reduktion der Tierzahlen vorangebracht werden. Gleichzeitig müssen die politischen Entscheidungsträger:innen darauf achten, dass Förderungen, mit denen die Politik mehr Tierwohl erreichen will, nicht zu einer Erweiterung oder dem Erhalt der Tierzahlen führen. Der für die Umsetzung des Tierschutzgesetzes und des Staatsziels Tierschutz notwendige Umbau der Tierhaltung sollte auch aus Klima- und Umweltschutzsicht um eine Politik der Tierzahlreduktion ergänzt werden.
Forderungen von VIER PFOTEN
- Drastische Reduktion der Tierbestände und artgerechte Haltung der Tiere
- Umbau-Förderung an geringe Besatzdichten und klar definierte Tierschutzanforderungen binden (z.B. Verzicht auf Amputationen und nicht-kurative Eingriffe)
- Transparente Analyse und Offenlegung aller Subventionen, die das Ziel haben, die Tierhaltung in Deutschland zu stützen
- Abbau von Subventionen, die eine Tierhaltung unterstützen, die nicht oder nur geringfügig über den gesetzlichen Mindeststandard hinausgeht
- Anhebung der reduzierten Mehrwertsteuer auf tierische Produkte (ausgenommen Produkte, welche bereits unter höchstem Haltungsstand produziert werden)
- Reduzierung der Mehrwertsteuer auf pflanzliche Alternativprodukte
- Preissteigerung bei Billigfleisch (externalisierte Kosten einpreisen)
- Sonderabgaben auf tierische Produkte
- Verpflichtende und realitätsnahe Haltungskennzeichnung jeglicher tierischer Produkte in Handel und Gastronomie, auch importierter Waren
- Förderung und Bewerbung des Konsums pflanzlicher Alternativ-Produkte
- Abkehr von Exporten
Um die Frage zu klären, unter welchen Voraussetzungen sogenannte Nutztiere in Deutschland mehr ihren arteigenen Bedürfnissen und damit dem Tierschutzgesetz und dem Staatsziel Tierschutz entsprechend gehalten werden können, wurden in dem Gutachten verschiedene Szenarien betrachtet. Dabei wurden die mengenmäßig relevantesten Tierarten Legehennen, Masthähnchen, Puten, Schweine, Milchkühe, Mastrinder und Jungrinder untersucht. Die Fragestellung war, wie viel zusätzliche Fläche nötig wäre, wenn die Tierzahlen auf dem aktuell hohen Niveau blieben und gleichzeitig die tierschutzfreundlicheren Flächenvorgaben der EU-Öko-Verordnung 834/2007 umgesetzt würden. Dieser bekannte und vielerorts bereits in der Praxis angewandte Standard wurde gewählt, da er ein begründetes Mindestplatzangebot im Stall und beim Auslauf vorgibt. Zwar garantiert auch die Einhaltung der EU-Öko- Verordnung nicht automatisch eine tiergemäße Haltung, doch in Verbindung mit fachkundigem Management und angepasster Rassewahl (keine Hochleistungszucht) bietet sie dafür durchaus die Möglichkeit.
Szenario A: Die aktuellen Tierzahlen bleiben unverändert, zusätzliche Stall- und Außenflächen sind verfügbar
Bei einer Umstellung der konventionellen Tierhaltung auf Öko-Flächenvorgaben und gleichbleibenden Tierzahlen würde sich der Bedarf an Stall- und Außenflächen über alle Tierarten gerechnet mindestens versechsfachen. Besonders im Geflügelbereich bestünde ein hoher zusätzlicher Bedarf an Außenflächen.
Szenario B: Die Stallflächen bleiben unverändert, zusätzliche Außenflächen sind verfügbar
Bei einer Umstellung der konventionellen Tierhaltung auf Öko-Flächenvorgaben unter der Annahme, dass entsprechende Außenflächen verfügbar sind, aber keine zusätzlichen Stallflächen geschaffen werden können oder sollen, müssten sich die Tierzahlen um insgesamt 29 Prozent von aktuell 174 Millionen Tiere auf 123 Millionen Tiere verringern.
Szenario C: Die Außenflächen bleiben unverändert, zusätzliche Stallflächen sind verfügbar
Bei einer Umstellung der konventionellen Tierhaltung auf Öko-Flächenvorgaben unter der Annahme, dass entsprechende Stallflächen verfügbar sind, aber keine zusätzlichen Außenflächen geschaffen werden können oder sollen, müssten sich die Tierzahlen erheblich verringern: um insgesamt 90 Prozent von aktuell 174 Millionen Tiere auf ca. 18 Millionen Tiere.
Szenario D: Zusätzliche Stall- und Außenflächen sind teilweise verfügbar
Unter der Annahme, dass bei einer Umstellung der konventionellen Tierhaltung auf Öko-Flächenvorgaben weder die gesamte zusätzlich benötigte Stall- noch Außenfläche frei verfügbar ist, wurde ein Mittelwert berechnet. In diesem Szenario, welches eine Annäherung an die praktisch vorhandenen Flächen darstellen soll, müssten sich die aktuellen Tierzahlen um 60 Prozent von aktuell 174 Millionen Tiere auf ca. 70 Millionen Tiere verringern. Der Mehrbedarf an Fläche liegt in dieser Berechnung beim Zwei- bis Dreifachen des aktuellen Niveaus.
Zum Download des Gutachtens geht es hier.
Oliver Windhorst
Pressesprecher für Tiere in der Landwirtschaft+49 151 183 515 30
VIER PFOTEN – Stiftung für Tierschutz
Lübecker Straße 128, 22087 Hamburg
VIER PFOTEN ist die weltweite Tierschutzorganisation für Tiere unter direktem menschlichem Einfluss, die Leiden aufdeckt, Tiere in Not rettet und sie schützt. Gegründet 1988 in Wien von Heli Dungler und Freunden, setzt sich die Organisation für eine Welt ein, in der Menschen Tieren mit Respekt, Empathie und Verständnis begegnen. Die nachhaltigen Kampagnen und Projekte von VIER PFOTEN konzentrieren sich auf Haustiere wie streunende Hunde und Katzen, Nutztiere und Wildtiere - wie Bären, Großkatzen und Orang-Utans - in unangemessener Haltung sowie in Katastrophen- und Konfliktgebieten. Mit Büros in Australien, Österreich, Belgien, Bulgarien, Frankreich, Deutschland, Kosovo, den Niederlanden, der Schweiz, Südafrika, Thailand, der Ukraine, Großbritannien, den USA und Vietnam sowie Auffangstationen für gerettete Tiere in elf Ländern bietet VIER PFOTEN schnelle Hilfe und langfristige Lösungen.